Rede des Vorsitzenden der Stiftung für Ökologie und Demokratie e.V.,
Hans-Joachim Ritter, anlässlich der öffentlichen Gründungsveranstaltung am
- Oktober 1993 im Presseclub Bonn
zum Thema
„Schlägt die Natur bereits zurück? – Ökologische Konzepte braucht unser Land“
Weltweit stehen die Zeichen auf Sturm. Das Leben ist bedroht durch
- die Bevölkerungsexplosion. Vom Anbruch der Geschichte dauerte es bis 1850, dass die Weltbevölkerung die erste Milliarde erreichte. 80 Jahre später – 1930 – hatte sie sich auf 2 Milliarden Menschen verdoppelt. Für das Jahr 2020 rechnet man mit mehr als 8 Milliarden. Wie diesen Menschenmassen Nahrung, Kleidung, Behausung und Arbeit gegeben werden soll, bleibt ein schier unlösbares Problem. Verteilungskämpfe werden die Folge sein. Allein durch die explodierende Bevölkerungszahl steigt der Rohstoffverbrauch immens und wäre bei steigenden Ansprüchen an den Lebensstandard nicht auszumalen.
- Das Leben ist weiterhin bedroht durch die großen Spannungen zwischen arm und reich, eine Schere, die immer größer statt kleiner wird.
- Das Leben ist bedroht durch die atomare, chemische und bakteriologische Gefahr, aber auch
- Durch die Kriegsgefahr aufgrund nationaler Egoismen wie z.B. im ehemaligen Jugoslawien oder in Georgien und Aserbaidschan.
- Das Leben ist ferner bedroht durch eine schleichende Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen durch Rohstoff- und Energieverschwendung, durch Belastung der Böden, des Wassers und der Luft sowie durch Landverbrauch.
- Die Klimakatastrophe nimmt Gestalt an. Drei große verhängnisvolle Ursachen verändern die Atmosphäre unseres Planeten:
- Die Verbrennung der fossilen Kohlenstoffe hat bereits bewirkt, dass der Kohlendioxidgehalt in unserer Atemluft in 120 Jahren um 25 % gestiegen ist und er wird jährlich um 0,5 % weiter steigen, wenn nicht Entscheidendes dagegen unternommen wird. Zwar haben mehr als 150 Staaten im Juni letzten Jahres in Rio die Klimakonvention unterzeichnet, mit der sie sich zu wirksamen Maßnahmen zum Klimaschutz verpflichtet haben. Doch darin war keine Zeitvorgabe enthalten. Bedenkt man, dass vor allem die Staaten der sogenannten 3. Welt einen großen Nachholbedarf haben, kann davon ausgegangen werden, dass die Klimakonvention als reine Absichtserklärung stehen bleibt. Deutschland will zwar den CO2-Ausstoß bis zum Jahre 2005 um 25 – 30 % – bezogen auf das Jahr 1987 – verringern. Doch angesichts des Nachholbedarfs im Osten und einer Politik, die weiterhin auf den Individualverkehr und den Fernstraßenbau setzt, ist es kaum anzunehmen, dass diese Zielvorgabe erreicht wird.
- Die Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW) sind hauptschuldig am Abbau der Ozonschicht. Erst 1995 wird es bei uns ein Verbot geben.
- Das Gas Methan ist der dritte Faktor der Klimaveränderung. Es entsteht zu 20 % bei Erdöl- und Erdgasbohrungen sowie aus FCKWs. In der Landwirtschaft entwickelt sich Methan beim Reisanbau und bei der Verdauung der wiederkäuenden Haustiere – also letzten Endes infolge der Ernährung einer wachsenden Weltbevölkerung.
- Das Leben ist bedroht durch die Erwärmung. Modellrechungen sagen eine globale Erwärmung infolge menschlicher Aktivitäten von 2 – 7 Grad Celsius im Verlauf der nächsten 100 Jahre voraus. Diese Temparaturänderung liegt der Größenordnung wie der Unterschied zwischen dem heutigen Klima und der letzten Eiszeit mit umgekehrten Vorzeichen und würde wesentliche Veränderungen in den regionalen Klimaverhältnissen der Erde bedingen. Die Polarkappen und Gletscher würden abschmelzen. Ganz Norddeutschland würde untergehen.
- Das Leben ist ferner gefährdet durch das immer größer werdende Ozonloch, bei dem kein Schutz vor der für die menschliche Haut gefährlichen Sonneneinstrahlung besteht. Hautkrebs würde verstärkt auftreten.
- Das Leben ist bedroht durch die
- Vernichtung der Regenwälder,
- Ausbreitung der Wüsten,
- Vergiftung der Flüsse und Meere,
- Aussterben zahlreicher Tier- und Pflanzenarten,
- den Müllnotstand,
- den Verkehrsinfarkt,
Aber auch
- Werteverlust und Orientierungslosigkeit in der westlichen Welt,
- sinnloser Konsum,
- zunehmende Verantwortungslosigkeit und
- Desorientierung in der Pädagogik kennzeichnen die aktuelle gesellschaftspolitische Lage.
Wußten Sie schon, dass
- jede Sekunde 3 neue Erdenbürger geboren werden?
- jede Sekunde 3.000 qm Wald verloren gehen?
- jede Sekunde 1.000 Tonnen Treibgase in die Luft geblasen werden und die Ozonschicht schädigen?
- jede Sekunde 1.000 Tonnen fruchtbare Erde vernichtet werden?
- jede Minute eine Regenwaldfläche so groß wie 3 Fußballfelder vernichtet wird?
- an jedem Tag ca. 50 Tier- und Pflanzenarten weltweit aussterben?
- wir an jedem Tag so viele fossile Brennstoffe verbrennen, die erst wieder einem Menschenleben nachwachsen können?
Dass es mit der Rettung der Erde höchste Zeit ist, hat auch der amerikanische Vizepräsident Al Gore begriffen. Er ist wohl unter den hochrangigen Politikern der einzige, der die Aussagen der Ökologie verstanden hat. Er hat verstanden, dass die Natur ein kompliziertes System von gegenseitigen Abhängigkeiten ist. Wenn das irdische Gleichgewicht in einem Bereich gestört wird, wirkt sich das auf die anderen aus. Gores Erkenntnisse gipfeln in folgenden Sätzen:
„Die moderne industrielle Zivilisation, so wie sie gegenwärtig organisiert ist, stößt aufs heftigste mit dem ökologischen System unseres Planeten zusammen. Die entfesselte Gewalt ihres Angriffs ist atemberaubend und die schrecklichen Konsequenzen treten so schnell ein, dass sie schon unsere Fähigkeiten, sie zu erkennen und ihre globalen Verflechtungen zu begreifen, überfordern, um angemessene und rechtzeitige Gegenmaßnahmen organisieren zu können.“
In der Zusammenfassung des Berichts „Global 2000“ aus dem Jahre 1980, der im Auftrag des amerikanischen Präsidenten Carter erarbeitet wurde, heißt es unter anderem:
„Wenn sich die gegenwärtigen Entwicklungstrends fortsetzen, wird die Welt im Jahre 2000 noch übervölkerter, verschmutzter, ökologisch noch weniger stabil und für Störungen anfälliger sein als die Welt, in der wir heute leben. Ein starker Bevölkerungsdruck, ein starker Druck auf Ressourcen und Umwelt lassen sich deutlich voraussehen. Trotz eines größeren materiellen Outputs werden die Menschen auf der Welt in vieler Hinsicht ärmer sein, als wir es heute sind. Für Millionen und Abermillionen der Allerärmsten wird sich die Aussicht auf Nahrungsmittel und andere Lebensnotwendigkeiten nicht verbessern. Für viele von ihnen wird sie sich verschlechtern. Sofern es im Bereich der Technologie nicht zu revolutionären Fortschritten kommt, wird das Leben für die meisten Menschen auf der Welt im Jahre 2000 ungewisser sein als heute – es sei denn, die Nationen der Welt arbeiten entschlossen daraufhin, die gegenwärtigen Entwicklungstrends zu verändern.“
Erstmals in der Geschichte sind die Völker und die anderen Lebensformen tödlich bedroht. Neben der Möglichkeit atomarer Vernichtung ist die fortschreitende Zerstörung der natürlichen Mitwelt durch zügellose Expansion des Industriesystems, durch ständiges „wirtschaftliches Wachstum“ die entscheidende Lebensfrage unserer Zeit.
Über und unter Tage wird die Erde ausgeplündert, die Meere und Gewässer, die Böden und die Atmosphäre werden vergiftet. Wir sind Zeuge und Mittäter eines Verdrängungskampfes gegen die anderen Arten, wie es ihn noch nie gab.
Ursachen dieser Fehlentwicklungen sind die materialistischen Anschauungen und Lebensgewohnheiten in den Industriegesellschaften, die weder die Natur noch ethische Gebote als Maß und Grenze des Machbaren anerkennen. Denn sie opfern unser Natur- Kultur- und Geisteserbe einem blinden Glauben an den technisch-wirtschaftlichen Fortschritt mit längst sinnlos gewordener Produktions- und Konsumsteigerung.
Die Erhaltung der Natur und der Lebensräume erfordert eine grundlegende, auf alle Lebensbereiche sich erstreckende Umbesinnung, eine tiefgreifende Neuorientierung der
Wert- und Zielvorstellungen. Ökologische Erkenntnisse und Maßstäbe müssen der entscheidende Bezugspunkt der Wirtschafts- und Lebensweise wie der technischen Entwicklung werden; sie müssen als Rahmenbedingungen die marktwirtschaftliche Ordnung bestimmen.
Die Umweltschäden in Deutschland beliefen sich 1992 auf rund 200 Milliarden Mark. Dies entspricht 6,8 Prozent des im vergangenen Jahr erwirtschafteten Bruttosozialprodukts.
Angesichts der bedrohlichen Situation war der in diesem Jahr verstorbene Ökologie Dr. Herbert Gruhl zu der Auffassung gekommen, dass die menschliche Gattung am Ende ihrer Weisheit ist. Sie hat sich den Erdball rücksichtslos unterworfen, kann sich nicht zügeln und wird sich nie bescheiden können. In seinem letzten Werk „Himmelfahrt ins nichts“ kam er zu der erschreckenden Erkenntnis, dass die Menschheit nichts dazu gelernt hat, nicht verzichten wird und deshalb das Chaos kommen wird.
Prof. Dr. Hans-Peter Dürr, Direktor am Werner-Heisenberg-Institut München, erklärt: „Wenn ich das augenblickliche Tempo der politischen Willensbildung in Bezug auf die ökologische Problematik betrachte, so habe ich größte Zweifel, dass uns die Zeit für die dringend notwendigen Änderungen ausreichen wird. Dies hieße, dass unsere Anstrengungen im Augenblick bestenfalls darauf hinauslaufen, den Schaden bei zukünftigen Katastrophen zu begrenzen und nicht zu vermeiden. Bei dieser pessimistischen Einschätzung sollten wir jedoch nicht vergessen, dass Lernprozesse und Einsichten Wachstumsprozesse sind, die immer im Winzigkleinen beginnen, ganz mühevoll eine kritische Größe erreichen, um dann aber am Ende plötzlich wie Pilze aus dem Boden zu schießen. Wenn wir die Hoffnung nicht aufgeben und uns darüber bewusst werden, dass wir bei diesem Prozess nicht zu passiven Beobachtern verdammt sind, sondern aktive Mitgestalter sein können, dann könnte durch unsere Entschlossenheit auch das aus heutiger Sicht fast Unmögliche doch noch zu einer echten Möglichkeit werden.“
Auch bei Professor Dürr, einem profunden Ökologe unserer Tage, eine sehr pessimistische Einschätzung der ökologischen Lage. Er gibt aber die Situation nicht völlig auf. Ich teile seine Beurteilung.
Die Natur ist anpassungsfähig und elastisch, vergleichbar mit einem Luftballon, den man beliebig weit aufblasen kann bis er schließlich platzt. Es kommt darauf an, weltweit – und da müssen wir bei uns selber anfangen – naturverträgliche Konzepte umzusetzen. Dies müssen völlig neue Ansätze sein.
Wir können darauf ein wenig Hoffnung schöpfen, dass sich U Thant, der Generalsekretär der Vereinten Nationen, mit seinem Vorwort zum Bericht des Club of Rome „Die Grenzen des Wachstums“ 1969 hinsichtlich des Zeitraumes geirrt hat. Er schrieb darin:
„Ich will die Zustände nicht dramatisieren. Aber nach den Informationen, die mir als Generalsekretär der Vereinten Nationen zugehen, haben nach meiner Schätzung die Mitglieder dieses Gremiums noch etwa ein Jahrzehnt zur Verfügung, ihre alten Streitigkeiten zu vergessen und eine weltweite Zusammenarbeit zu beginnen, um das Wettrüsten zu stoppen, den menschlichen Lebensraum zu verbessern, die Bevölkerungsexplosion niedrig zu halten und den notwendigen Impuls zur Entwicklung zu geben. Wenn eine solch weltweite Partnerschaft innerhalb der nächsten zehn Jahr nicht zustande kommt, so werden, fürchte ich, die erwähnten Probleme derartige Ausmaße erreicht haben, dass ihre Bewältigung menschliche Fähigkeiten übersteigt.“
Er sah im Jahre 1969 für die Menschheit noch eine Galgenfrist von 10 Jahren. Er ist von den Prognosen des Club of Rome ausgegangen. Die tatsächlichen Wachstumsraten, Energieverbräuche usw. sind allerdings – Gott sei Dank – geringer ausgefallen. Dies mag die Ursache dafür sein, dass sich die Probleme noch nicht in der dramatischen Weise zugespitzt haben.
Die Zeit drängt sehr. Noch gibt es eine Chance, die drohenden ökologischen Katastrophen, aber auch die Sinnkrise abzuwenden, wenn jetzt konsequent auf allen Gebieten umgesteuert wird, national wie international, privat wie öffentlich. Dazu will die Stiftung für Ökologie und Demokratie e.V. ihren konstruktiven Beitrag leisten. In diesem Sinne sage ich mit Antoine d‘ Exupery „Ich kann nicht voraussehen, aber ich kann zu etwas den Grund legen. Denn Zukunft baut man.“
Wir brauchen weltweit schnellstens Ordnungsstrukturen, bei der der „Umweltschutz“ nicht nur als Reparaturunternehmen eines ständigen wirtschaftlichen Wachstums begriffen wird, sondern als mitwelt- und nachweltorientierte Überlebenspolitik. Im Zentrum steht hier eine ökologische Energiepolitik. Weder das Verbrennen fossiler Energien, noch der Einsatz von Atomkraft ist wegen ihrer Gefahren und Belastungen für eine Mitwelt ökologisch vertretbar. Hinzu kommt noch die Knappheit der Ressourcen. Die Reichweiten der Ressourcen hängen entscheidend von der zukünftigen Entwicklung des Verbrauchs ab. Nimmt man eine Steigerungsrate von 3 % an, so reichen die Vorräte an Erdöl etwa noch 45 Jahre, Erdgas 60 Jahre. Da die Zuwachsraten von Kohle kleiner sind, kommt man hier heute auf Reichweiten von etwa 220 Jahren. Bei 3 % Steigerung ist die Verdoppelungsrate 23 Jahre, was bedeutet, dass sich bei einer Verdoppelung der heute geschätzten abbaubaren energiemäßigen Ressourcen und bei Fortschreiten dieses Anstieges lediglich eine Verlängerung der Galgenfrist um 23 Jahre ergibt.
Auch durch eine extreme Ausweitung der Atomenergie ließe sich diese prekäre Situation nicht wesentlich entschärfen. Noch kritischer erscheinen die Engpässe auf der Entsorgungsseite. Aufgrund der begrenzten Tragfähigkeit des Öko-Systems hat Professor Dürr eine Reduzierung des mittleren Energieverbrauchs pro Person von 52.000 kwh im Jahr auf 13.000 kwh im Jahr oder 1,5 kwh pro Stunde gefordert. Die erste Halbierung könne durch rationellere Energienutzung erreicht werden, weitere Einsparungen aber nur durch eine völlige Änderung unseres Lebensstils.
Wir müssen dazu übergehen, den zukünftigen Energiebedarf nur noch durch erneuerbare Energiequellen (Sonne, Wind, Wasser, Biomasse, Erdwärme) zu decken. In einer Zeit, wo über Stellenabbau geklagt wird, ist dies eine gigantische innovative Herausforderung! Wir brauchen ökologische Konzepte in allen Politikbereichen, in der Verkehrspolitik, der Landwirtschaftspolitik, der Wirtschafts- und Finanzpolitik, der Energiepolitik, in der Bau- und Planungspolitik usw.
Wir benötigen dringend eine Neuorientierung in unseren Werten, da der Lebensstil in den industriealisierten Ländern auf eklatante Weise die ökologische Nachhaltigkeit verletzt. Das Ziel der künftigen Werte darf nicht mehr die Erfüllung beliebig definierter Bedürfnisse sein, sondern die Achtung vor allem Leben und die Rücksichtnahme auf die natürlichen Lebensgrundlagen in ihrer ökologischen Nachhaltigkeit. Dazu gehört auch eine gerechtere Veteilung Lebensgüter zwischen Nord und Süd und zwischen Reichen und Armen, ohne die sich eine menschliche Gesellschaft nicht wirklich als human bezeichnen kann.
Eine umfassende ökologische Neuorientierung der Politik setzt in Deutschland voraus, dass zunächst im Grundgesetz das ökologische Handeln zum Staatsziel erklärt wird. Ich sage bewusst nicht „Umweltschutz“, da dies zu sehr an den technischen Umweltschutz als Reparatur der Industriegesellschaft erinnert, ohne dass dadurch grundlegende Veränderungen eintreten.
Ökologisches Handeln zum Staatsziel erklärt, würde bedeuten: jegliches staatliche Handeln, bei dem diese Voraussetzung nicht erfüllt wäre, stünde im Widerspruch zum Grundgesetz und könnte somit als verfassungswidrig erklärt werden. Es zeichnet sich ab, dass wir zwar einen Umweltschutzartikel in das Grundgesetz bekommen werden, der aber relativ zahnlos bleiben wird.
Nur eine ökologische Politik sichert unseren Kindern und Kindeskindern eine menschliche Zukunft!
Künftige Generationen werden nicht danach fragen, in welch astronomische Höhen wir das Bruttosozialprodukt getrieben haben und wieviel Atomkraftwerke wir gebaut haben, sondern danach, wieviel fruchtbares Land, trinkbares Wasser und Luft zum Atmen wir ihnen übriggelassen haben.